Entwicklung und Schönheit

Mich fasziniert menschliche Entwicklung durch Beziehung zum eigenen Selbst, durch Begleitung und durch Beziehung. Ich sehe darin sehr viel versteckte und manchmal auch brachliegende Schönheit.

Als ich diese Rosen vor einigen Tagen abschnitt und neu arrangierte, weil sie begannen ihre Köpfe hängen zu lassen, fiel mir ein Gespräch vor einigen Jahren mit einer meiner ältesten Supervisandinnen ein. Eine fast 80-jährige Frau, die monatlich in der Supervision fasziniert von den Begegnungen mit kranken Menschen im Rahmen ihres ehrenamtlichen Engagements erzählen konnte, die aber auch nie müde wurde sich selbst zu hinterfragen. Eine Frau, der die Qualität und Professionalität ihrer Begegnungen sehr am Herzen lag und die immer wieder Neues interessiert aufnahm und für sich integrierte. Eine Frau, die aber auch bei kleinen Gelegenheiten oder in der Pause über ihren Mann, mit dem sie schon über 50 Jahre verheiratet war, schwärmen konnte wie frisch verliebt und deren großes Glück es einmal war, dass sie ihre beiden Hüftoperationen so legen konnten, dass sie im Krankenhaus ein Zimmer teilen konnten.

Das Gespräch, das mir einfiel, war so ein Pausengespräch über Rosen im Raum. Sie erzählte mir sie sehe Rosen immer als Symbol für unser Leben und unsere Entwicklung. „Sie sind in allen Lebensphasen wunderschön. Als dichte, feste kleine Knospen; in der langsamen Öffnung, wo jedes Blatt sich entfaltet; aber auch in der Endphase mit den sich kräuselnden Rändern und den langsamen Verfärbungen, strahlen sie immer noch Würde und Schönheit aus und erfreuen unser Herz.“ Wir unterhielten uns auch über die Entwicklungen unserer Zeit und ihre Besorgnis darüber, dass sie junge Menschen erlebt, die meinen ihre Blüten aufreißen zu müssen und schon  woanders zu sein als sie sind, um zu gefallen und über die Sehnsucht, das Leben am vermeintlichen Höhepunkt festhalten zu wollen.

Das kleine Gespräch mit dieser weisen alten Frau begleitet mich nunmehr seit vielen Jahren. Und inspiriert mich heute wieder, als ich nach einer kurzen intensiven Krankheitsphase gerade versuche meine Prioritäten und die liegen gebliebenen Todos klar zu bekommen. Ich versuche mich in meinem eigenen Leben zu orientieren. Wo (er-)lebe ich diese Schönheit? Zeige ich meine Verfärbungen, meine krausen Kanten, meine Macken? Ja, das tue ich schon immer wieder und immer öfter, aber mit welchen Einstellungen dazu? Mit welchen Gefühlen? Ich kämpfe nach wie vor immer wieder mit Selbsterniedrigung, damit mich negativ zu bewerten, wenn ich etwas mache, das ich nicht für „gut genug“ halte. Der Angst etwas „wirklich“ falsch zu machen, jemanden zu verletzen, eine Grenze unabsichtlich zu überschreiten. Da kann ich mir selbst gegenüber auch sehr „unschön“ werden.

Diese Gedanken und Gefühle führen dann dazu, dass ich mich innerlich zurückziehe, mich kleiner mache als ich bin. Letztlich, dass ich mich nicht in meiner Schönheit und Verletzlichkeit zeige. In anderen suche ich und sehe schnell Potential. Ich verbringe ganze Tage damit, die Möglichkeiten im Miteinander sichtbar zu machen. Ich nehme Schönheit der Einzelnen und der Beziehung wahr, wo sie von den Beteiligten noch mit Füßen getreten wird. Ja, ich kann so viel Liebe und Anerkennung in meine Arbeit legen, so wenig Bewertung. Aber mir selbst gegenüber ist es oft ein steiniger Weg, und da brauche ich auch Menschen im Außen, die mir in dieser Offenheit begegnen, genauso wie es meine Klienten/innen und Patienten/innen brauchen.

Diese Gedanken und dieses Spannungsfeld begleiten mich heute auf meinem Weg in meinen Tag. Aber im Nachdenken und mich Einlassen auf meine Verletzlichkeit und meine Angst entdecke ich auch heute wieder die heilende Kraft der Selbsterkenntnis, wenn sie mit „Selbstgnade“ gepaart ist. Seltsam, dass es dieses Wort nicht gibt. Können wir uns selbst gegenüber gnädig sein? Was braucht es um uns selbst gegenüber die Güte und Wärme aufzubringen die wir und auch alle anderen brauchen um uns zu entwickeln? Um unser Potential zu schöpfen?

In der Arbeit mache ich die Erfahrung, dass es viele kleine, feine, achtsame Momente des echten Kontaktes braucht, damit mein Gegenüber meine Sicht auf seine/ihre Schönheit manchmal nur in kleinen Schritten wahrnehmen kann. Dass es auch viele kleine Schritte braucht, um im alltäglichen Tun statt der Selbstgeißelung und Selbsterniedrigung, Selbstliebe, Selbstgüte und Gnade zu leben.

Manche wird es vielleicht überraschen, dass ich in diesem Zusammenhang solch spirituell behaftete Begriffe verwende, aber ich finde im Deutschen keine passenderen und ich finde sie passen gut. Wenn wir diese Worte als das nehmen, was sie bedeuten: Gnade kommt vom althochdeutschen Wort ginade, das auch Hilfe und Schutz bedeutet. Das heißt wohlwollende, freiwillige Zuwendung. Das lateinische Wort dafür gratia hat auch eine Nähe zu Freundlichkeit und Dankbarkeit. Güte kommt von gut und wurde früher meist auch als Herzensgüte bezeichnet.

Ich erlebe oft Personen, denen in Therapiesitzungen oder Beratungen, die eigene Anteile am Problem sehr deutlich werden, die neue Wege gehen wollten, aber Gefahr laufen in Selbstanschuldigung (und auch Schuldzuweisungen) stecken zu bleiben und in einer Sitzung suchte ich nach einem passenden Wort für das oben Beschriebene. Mir fiel nur das englische Kindness ein.

Und da stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit Selbsterkenntnis und der eigenen Erfahrung der Unzulänglichkeit um? Menschen in solchen Prozessen zu begleiten, erfordert von mir einen großen und flexiblen inneren Raum, der diese Unzulänglichkeit, Verletzlichkeit und menschliche Fehlerhaftigkeit mittragen und aushalten kann. Es braucht sowohl Anerkennung und die Klarheit der Realität als auch Wärme und Zuwendung, bis die innere Zuversicht und etwas Neues keimen können. Das heißt nicht unbedingt (aber manchmal auch) über einen langen Zeitraum.

In einer solchen Haltung kann aber auch ich meine Blätter entfalten, kann ich mit meinen Eigenheiten sein und das Schöne in mir selbst entdecken. Kann ich mein Potential weiter entfalten und mich entwickeln.