Monat: September 2013

Tage des Spürens

Ein Erfahrungsbericht von Robin Menges. 4 Tage reine Prozessbeobachtung von Familientherapie und Beratung.

Ich sitze im Flieger und bin satt von Erlebnissen, Eindrücken und Gefühlen der letzten Tage. Ich habe auch ein Mitteilungsbedürfnis und möchte von der starken Kraft des Lebens und der Kraft der Verletzlichkeit erzählen, die ich in den letzten Tagen erlebt habe. Und ich will einen Einblick in die experientielle Arbeitsweise mit Familien geben.

Der Anlass für diese Reise, war einerseits mein Wunsch mein familientherapeutisches Wissen zu vertiefen und andererseits der Wunsch meinem Bauchgehirn, meinem Spüren und Empfinden einen neuen Entwicklungsraum zu geben. Ich nahm deshalb als Hospitantin an der Familienwoche des Ausbildungslehrganges des dfti* teil. Es hätte auch auf inhaltlicher Ebene viel Anreiz gegeben, dabei zu sein und von den Lehrtherapeuten zu lernen. Da diese Woche aber auf Dänisch stattfand und mein Dänisch selbst nach dieser Erfahrung kaum mehr als eine Handvoll Wörter umfasst, konnte ich dabei auch ein Experiment machen, das mir schon lange vorschwebte: Eine inhaltliche Arbeit, die mir sehr vertraut ist, ausschließlich auf der Prozessebene zu beobachten.

Das hieß: alle Fragen, Gedanken und Themen, die sich normalerweise auf der Verstehensebene stellen, hinten anstellen und außer Acht lassen. Mich auf mich selbst, auf meine Gefühle und Assoziationen einlassen. Meine Sinneskanäle öffnen und mich darauf einlassen, das zu spüren, was ich in Resonanz mit den Einzelnen und auf der Beziehungsebene zwischen ihnen in der Sitzung erlebe.

Die Frauen und Männer der Familien, welche an dieser Woche teilnahmen, waren alle Auszubildende im vierten Ausbildungsjahr zum Familientherapeuten/zur Familientherapeutin. Die Familien waren so bunt wie das Leben und spiegelten die Gesellschaft und die Entwicklungen moderner Familien sehr vielfältig. Auch die Altersspanne der „Kinder“ bot die ganze Bandbreite von einem 2 jährigen Mädchen bis zu jungen Erwachsenen.

Die Besonderheit, dass jeweils ein Elternteil sich zum Familientherapeuten ausbilden lässt, weckt meiner Erfahrung nach Sehnsüchte und Wünsche für die eigene Familie, berührt aber auch sehr wunde persönliche Stellen, die man lieber nicht ansehen will. Man will das Gute und die Entwicklung, welche man in der therapeutischen Begleitung erlebt, für sich und seine Familie selbst erfahren. Gleichzeitig hat man als Fachperson in diesem Bereich den Anspruch, „alles auf die Reihe zu bekommen“, am besten „sehr gut“. Diesen Anspruch erlebte ich in diesen Tagen auch, aber es war für mich auffallend, wie wenig Unsicherheit ich spürte, wenn es darum ging mit seiner eigenen „unvollkommenen“ Familie in die „Mitte“ zu gehen; sich mit oder ohne Partner durch eine AusbildungskollegIn begleiten zu lassen, während alle anderen (Kinder und Erwachsene zuschauten). Ich erlebte hingegen sehr viel Offenheit, sehr viel Ringen, viel tiefen Schmerz und die starke Kraft der Verantwortungsübernahme.

Alle Prozesse ausschließlich auf der emotionalen und Körperebene beobachten und verfolgen zu können, war für mich eine sehr intensive und reiche Erfahrung. Als sich gegen Ende der Tage eine alleinerziehende Mutter mit ihren drei Töchtern Hilfe holte, und im Laufe des Gespräches die Jüngste ihren tiefen Schmerz sehr tränenreich zeigte, rannen auch mir die Tränen die Wangen herunter. Im Gegensatz zum Hören, wo ich als Beobachterin die Möglichkeit habe, das Gehörte und das Gespürte gleich einzuordnen und zu verstehen und damit etwas auf Distanz zu halten, spürte ich sehr unmittelbar, wie ich mich gefühlsmäßig nur ganz oder gar nicht einlassen kann. Gleichzeitig konnte ich dadurch, dass ich „nichts verstand“, relativ klar erkennen, mit welcher eigenen Trauer ich in Verbindung kam.

Ich möchte hier einen konkreten Therapieprozess beschreiben und veranschaulichen, was ich erlebte. Auch hier saß eine Mutter mit drei Kindern in der Mitte. In dieser Sitzung war zu Beginn das Eindrücklichste, die starke Einsamkeit der mittleren Tochter (ca. 13 Jahre) und Distanziertheit der Mutter gegenüber. Sie wirkte einsam und sehr verschlossen. Das Bild, das sich mir aufdrang war: dass sie „alleine“ da sitzt. Die Mutter schien etwas zu wollen, einen Anspruch an die Tochter zu haben, sich aber gleichzeitig in sich selbst zu verstecken. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihre Tochter nicht überfordern wollte. Es war aber auch eine Sehnsucht der Mutter spürbar, etwas für ihre Tochter zu wollen. Die Signale der Mutter waren also sehr ambivalent.

Eine Wende trat ein, als die angehende Therapeutin die Mutter sehr feinfühlig ermutigte mehr von sich zu sprechen und zu äußern was sie wollte. Die Stimme der Mutter wurde klarer und stärker, sie wandte sich unter Tränen dann dieser Tochter direkt zu.

Die Tochter, die bis dahin sehr verschlossen und abweisend dagesessen hatte, begann auch zu weinen und suchte wieder zwischendurch einen direkten Augenkontakt zur Mutter. Sie redete stockend und schluchzend, und ich konnte spüren, dass es sehr persönliche Worte waren.

Dies ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt, aber es faszinierte mich sehr, wie viel ich alleine durch das Beobachten und der inneren Offenheit „verstehen“ und erkennen konnte.

Bezeichnend waren für mich auch die wenigen dänischen Worte, die ich in diesen Tagen lernte, einfach weil sie gehäuft im Beratungskontext vorkamen. Es waren die Worte für „Reden”, „vermissen/nach etwas verlangen” und „hart arbeiten“. Diese drei Worte bringen für mich die Erfahrung dieser Tage sehr schön auf den Punkt. Ich erlebte viel harte, bewusste und intensive therapeutische Arbeit von Erwachsenen und Kindern. Ich erlebte aber auch ganz unmittelbar die faszinierenden Möglichkeiten, wenn man das Potential persönlicher Sprache mit den persönlichen tiefen und authentischen Sehnsüchten kombiniert.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Familien bedanken, die mir Einblick in ihr Leben und ihre Entwicklungsprozesse gaben. Sie konnten sich oft nicht vorstellen, wie das für mich war. Ich möchte mich an dieser Stelle aber auch bei den LehrtherapeutInnen Peter Mortensen und Ruth Hansen bedanken, die mir in den Pausen und nach getaner Arbeit einen tiefen Einblick in ihre eigenen Prozesse und Gedanken gewährten. Wir waren alle sehr erstaunt darüber, wie viel ich ohne Sprache verstanden hatte und welche Details im Prozess auch ohne konkrete Inhalte sehr klar erfassbar waren.

 


*dfti – Dänisches Familientherapieinstitut: Dieses Ausbildungsinstitut hat sich aus der Familientherapeutischen Arbeit rund um Walter Kempler, Jesper Juul, Lund Mogens und anderen entwickelt. Sie bauen auf mehr als 30 Jahre Erfahrung auf und bieten Ausbildung in experientieller Familientherapie an. Das Institut wird von Peter Mortensen und Ruth Hansen geleitet. Die oben beschriebene Familienwoche wurde von ihnen beiden gemeinsam geleitet.

**IGfB – Internationale Gesellschaft für Beziehungskompetenz in Familie und Organisation: Die IGfB wurde in enger Kooperation mit dem dfti und Jesper Juul von Robin Menges gegründet, um die experientiellen Familientherapeutischen Ansätze, nach Österreich, Schweiz und in den Süddeutschen Raum zu bringen. Die IGfB bietet Fortbildungen in experientieller Familienberatung und Familientherapie, sowie zu anderen angrenzenden Themen für Fachleute an.