Gscheit Scheitern?!?

Also gleich vorne weg – von gescheit Scheitern halte ich nicht viel. Das geht einfach nicht zusammen – Scheitern ist Sch…! Das klingt so nach „aus Fehlern lernen“! Echt super! Immer und überall hört man, dass alles eh nur halb so schlimm ist. Nein! Scheitern tut weh! Scheitern ist echt kein Honigschlecken, das ein bisschen vermiest wurde oder ein Spaziergang an einem trüben Tag. Für mein Scheitern schäme ich mich auch. Würde es am liebsten verstecken. Sollte keiner mitbekommen und keiner kommentieren. Aber ich scheitere ja an Zielen, an Träumen und manchmal am normalen Leben. Alles Dinge, von denen andere wissen. Dinge, die ich nicht im stillen Kämmerlein gemacht habe.

Damit was Scheitern kann, habe ich ein Ziel gehabt – Wollte ich wohin. Ja, das ist dann wohl nicht aufgegangen! Hat wohl nicht hingehaut! Da habe ich wohl Fehler gemacht! Vielleicht hätte man es besser wissen können/besser machen können. Ich jedenfalls mal nicht.

Ich bin eine Durchhalterin, eine Dranbleiberin – Scheitern heißt aufgeben, loslassen, nicht weiterwissen. Nein das fühlt sich nicht gut an. Und nein, das suche ich mir nicht aus.

Scheitern kann man nur ganz oder gar nicht. Da kennt man sich zumindest aus. Es ist irgendwie eine ehrliche Sache. Ein bisschen Scheitern ist kein Scheitern. Das ist in die Knie gehen, sich anpassen, das ist hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitermachen, aber nicht Scheitern!

Scheitern ist Hinfallen, am Boden liegen und nicht weiterwissen. Oft nicht mal wissen, wie man wieder aufstehen kann oder soll. Geschweige denn wissen, wer einem helfen könnte, oder was sonst noch helfen könnte.

Aber woran scheitern wir denn? Wer bestimmt, dass etwas gescheitert ist? Meistens scheitern Träume, Ziele und Vorstellungen, die wir uns selbst gesetzt haben. Oder wir Scheitern an Wünschen und Vorstellungen anderer für unser Leben, die wir mehr oder weniger bewusst übernommen haben. Manchmal sind es Lebensträume wie ein Job oder eine Beziehung. Manchmal Projekte oder anderes.

Scheitern kann man nur an Dingen, die man angegangen ist. Ich habe etwas versucht, etwas ausprobiert, habe mich auf den Weg gemacht und das hat nicht funktioniert. Das ist nicht gelungen.

Wer bestimmt, dass das Nichterreichen eines sportlichen Zieles ein Scheitern ist? Dass das Zerbrechen einer Beziehung ein Scheitern ist? Wer sagt, dass ein Studien- oder Schulabbruch ein Scheitern ist?

Aber wenn es sich für mich wie Scheitern anfühlt, ist es das für mich auch. Auch wenn viele sagen: „du kannst ja trotzdem“, „das ist heutzutage nicht mehr so“, „im Nachhinein wirst noch froh sein“ und was Menschen sonst alles noch so sagen, wenn sie eigentlich nicht wissen, was sie sagen sollen, weil sie betroffen sind und die Schwere, der Verlust und die Trauer so schwer wiegen. Die Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit, die oft mit Scheitern einhergehen, sind schwer auszuhalten und werden am liebsten mit schnellen Lösungen und guten Tipps zugedeckt. Nur nicht spüren, was so heftig und schwierig ist, ist da oft die Devise.

Wenn wir scheitern, lassen wir los; lassen wir etwas los, dass uns wichtig war; etwas, an dem unser Herz hing. Ja das tut weh – ganz ohne Wenn und Aber. Und auch wenn mit ein bisschen Abstand die Gefühle übertrieben scheinen, das sind sie nicht.

Oft bin ich im Leben noch nicht so gescheitert, aber oft genug, um zu wissen, dass es verdammt weh tut.

Beruflich begleite ich Menschen in schwierigen Lebensphasen und Prozessen. Und ja manchmal liegen sie wirklich am Boden und wissen nicht weiter, wissen nicht, wie sie die Scherben zusammenstückeln sollen. Manchmal wackelt innerlich so ziemlich alles, was wackeln kann, manchmal auch äußerlich. Man kennt sich nicht so, ist verunsichert und kann nur schwer klare Gedanken fassen. Der Boden der eigenen Realität ist hart, aber so crazy das vielleicht klingt, auch verlässlich. Wenn man am Boden ist, spürt man erst was wirklich trägt.

Every time I hit the ground, I find the strength to get up again“ (Marla Glen). Diese Erfahrung begleitet mich persönlich und beruflich schon lange. Sie gibt mir den Mut, ganz in die Tiefe zu gehen; den Mut hinzuschauen, was wirklich ist. Dem Boden zu vertrauen, auch wenn er sich hart und unnachgiebig anfühlt.

Ich mache immer wieder die Erfahrung: Erst wenn ich ganz in meiner eigenen Realität angekommen bin, ganz unten gelandet bin, erst dann verändert sich was in mir. Erst wenn ich ganz losgelassen habe, tun sich Dinge auf, die wirklich stimmig sind und mir und meinem Leben entsprechen. Es ist dann nicht mehr der Traum, der geplatzt ist, sondern etwas Neues, das mir und meinem Wesen – nicht den Bildern, die ich über mich habe – entspricht.

Ich lese auch Geschichten des Scheiterns in der Bibel (zb. Mose) so. Der heilige Boden vor dem brennenden Dornbusch ist auch die Begegnung mit sich selbst. Da ist nichts mehr geschönt, da gibt es nichts mehr zu erklären oder zu rechtfertigen. Wenn ich Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe, stehe ich auch mir selbst gegenüber. Meine Grenzen sind klar. Und ich bin überzeugt, dass das was sich dann entwickelt viel eher der Realität, den Begabungen, der inneren Tiefe des jeweiligen Menschen entspricht. Etwas, das durch die Begegnung in dieser Deutlichkeit erst zur Entfaltung kommt. Keine Ahnung, ob jeder scheitern muss; ob alle an dieser schmerzhaften Stelle vorbeikommen. Aber meine Erfahrung ist: Ohne die Gefahr des Scheiterns, ist das Leben nicht so bunt und vielfältig. Wenn ich nichts ausprobiere, kann ich auch nichts falsch machen. Ist aber ziemlich langweilig und lähmend.

Alles richtigmachen, das Scheitern um jeden Preis vermeiden ist anstrengend. Dann muss alles passen und funktionieren. Träume, Eventualitäten, neue Ideen und Entwicklungen haben keinen Raum. Da kann nicht mehr als der Plan aufgehen (der natürlich auch scheitern kann).

Das Leben will gelebt werden und die Gefahr des Scheiterns lauert überall, wo man sein Herz an etwas hängt.

5 Tipps zum Umgang mit Scheitern:

  1. Freundlichkeit – Scheitern ist kein Feind und niemanden ist geholfen, wenn wir so tun als ob es das wäre. Freundlich sein heißt Wohlwollen und Verständnis, dass es so ist wie es ist.
  2. Anerkennung – verschämt Verstecken und Verheimlichen macht alles nur schlimmer und gibt mehr Gewicht und Schwere als notwendig. Anerkennung ist Wertschätzung des Menschseins mit all seiner Unzulänglichkeit.
  3. Schutz – Menschen, die Scheitern brauchen Schutz und die Sicherheit, dass sie so oder so ok sind. Auch wenn was vermeidbar gewesen wäre – Na und?! Sie brauchen Raum und Zeit, sich wieder auf die Beine zu stellen.
  4. Zugehörigkeit – der Schmerz der Ausgrenzung, des nicht Dazugehörens ist einer der heftigsten psychischen Schmerzerfahrungen. Menschen brauchen Gruppen- oder Familienzugehörigkeit. Manche mehr, manche weniger. Aber ausgeschlossen zu werden ist eine existentielle Bedrohung. Das braucht keiner und erst recht nicht, wenn man gerade gescheitert ist.
  5. Reden – Wenn keiner über sein Scheitern im Kleinen und Großen spricht, fühlt sich jeder, der scheitert noch einsamer und verlassener – Reden über die eigene Realität und Worte für die eigenen Empfindungen finden, verhilft unserem Gehirn Sinn zu machen. Es geht um ehrliche Worte, die sitzen. Wo man mit jeder Faser seines Seins, spürt: Ja genauso ist es mit mir! Und dieses Reden braucht ein Gegenüber – einen Zuhörer/eine Zuhörerin, die nicht an Antworten denkt und der keine Lösungen sucht.

Ich wünsche mir und uns Mut zum Scheitern! Mut zum Leben! Zum Ausprobieren! Mut zum Fehlermachen! Mut zum Träumen! Mut zum Menschsein!

Erst im Gehen entwickelt sich der Weg, erst im Scheitern wird klar, welcher Boden in mir trägt.

Dieser Text wurde in der Zeitschrift „Junge Gemeinde“ Nr 224: 2017 der Evangelischen Jugend Österreich erstveröffentlicht.

Wenn Familie weh tut

Familie kann Himmel und Hölle sein, wie es vor kurzem eine Seminarteilnehmerin auf den Punkt brachte. Himmel, wenn wir einen Platz haben, wo wir uns zu Hause fühlen, Menschen wissen, die uns nahestehen und uns so nehmen wie wir sind. In familiären Beziehungen suchen wir Verbundenheit und Geborgenheit, jemand, auf den wir uns verlassen können: einen sicheren Hafen. Aber Konflikte sind unumgänglich, weil sich jeder auch nach Autonomie und Unabhängigkeit sehnt. Und manchmal kommt das Leben anders als man es sich wünscht, da können diese engen Beziehungen auch zur Hölle werden.

Familie tut weh, wenn Kinder auffällig werden, Partnerschaften in die Brüche gehen, Jugendliche ausbrechen und Kontakt verweigern, jemand stirbt und vieles mehr. Das ist nicht nur für die direkt Betroffenen schwierig, sondern schmerzt auch alle rundherum. Von Verwandten, die davon erfahren bis hin zu Nachbarn oder Kollegen, bei denen sich jemand das Herz ausschüttet. Weil wir aber alle diesen Schmerz lieber nicht spüren und aushalten, suchen wir schnell Lösungen, haben Tipps, Vorschläge und Ideen, was am besten zu tun sei. Häufig fühlen sich Betroffene dadurch noch weniger verstanden und erleben sich als Versager, wenn die Ratschläge nicht fruchten.

Sich Hilfe zu holen ist häufig ein großer Schritt. Männer und Frauen sind in der Krise sehr verletzlich und erleben es oft als Scheitern, wenn sie es nicht alleine schaffen. Dabei haben Menschen zu allen Zeiten Unterstützung in Krisen gesucht und gebraucht. In allen Kulturen gibt es die Funktion des Krisenbegleiters und Personen, die sich Kompetenzen angeeignet haben, die es für diese Krisenbegleitung braucht. Schwierige und persönliche Prozesse überfordern oft Angehörige und Freunde, auch wenn diese eine sehr wichtige und wertvolle Unterstützung sind.

Bei solch schmerzhaften Prozessen braucht man Außenstehende, die wohlwollend unterstützen, eine erweiterte Perspektive einnehmen und die schwierigen Gefühle aushalten, diese ernst nehmen und mitschwingen können, ohne sich darin zu verlieren. Das Faszinierende an der Arbeit mit Familien ist, dass jede Familie in sich selbst das Potential hat, ihre eigenen Probleme zu lösen. Neue Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven, müssen aber erst entdeckt werden. Das ist ein Grund, warum es Sinn macht, sich professionelle Hilfe zu holen.

Es gibt aber noch mehr gute Gründe: Wenn es um Familienprozesse geht und Kinder im Spiel sind, haben wir oft nicht viel Zeit für tiefgreifende Analysen, auch wenn Familienthemen immer sehr persönlich sind.

 

  • Familienthemen sind unmittelbar – sie brauchen Begleitung, im Hier und Jetzt.
  • Familienthemen sind immer auch emotionale Themen – und können nicht im Kopf gelöst werden.
  • Familienthemen sind verletzliche Themen – sie brauchen einen sicheren Ort.
  • Familienthemen sind immer existentielle Themen – und brauchen Ehrlichkeit und Offenheit.

 

Beratung und Begleitung in schwierigen Lebenslagen bekommen Familien und Paare neben den Familienberatungsstellen des Landes auch von ausgebildeten BeraterInnen aus dem Netzwerk der IGfB (http://www.igfb.org/die-igfb-wir#team). Der Mut den ersten Schritt zu machen, zahlt sich aus.

(veröffentlicht im Familienjournal des Landes Tirol – Juni 2017 Autorin: Robin Menges, Psychologin)


Die IGfB – Internationale Gesellschaft für Beziehungskompetenz (www.igfb.org) bietet ab Oktober einen Family Counseling Lehrgang in Innsbruck an. Personen, die Familien und Paare begleiten wollen, können sich für diese herausfordernde aber auch berührende Arbeit in sieben Semestern zum Family Counselor ausbilden lassen. (Der Lehrgang berechtigt zudem zum Erwerb des Gewerbescheines Lebens- und Sozialberater)

Take your broken heart and turn it into art …

We at the IGfB understand counseling and family therapy as a personal and individual process, which supports individuals and family systems in their personal solutions and arouses potential for change.

In the context of accomapnying these kind of developmental processes, Meryl Streep’s words „take your broken heart and turn it into art“ touched me last week.

I also try to turn my broken heart into art. Sometimes the result is artful, sometimes not. The transformation of one’s own wounds, through one’s own actions, is an essential impetus of many people, whether as partners, as parents, in our professions, in our voluntary commitments or in other areas.

One of the lectures that I gave this autumn was titled „Family Hurts“. In preparation for this, and through the reactions of others, I was confronted with the harshness and inevitability of this fact time and time again.

Why do we do what we do?

Whether in helping professions or in other areas, probably the greatest driving force of human activity is to alleviate suffering and to heal injuries. Depending on how we are “knit together“, this happens through power, the preservation of material goods and security, or through relationships and commitment to others.

All of us have a broken heart, all have wounds. Some wounds are deeper than others; some life-processes require much from the individual, and the danger of getting out of balance can be greater for one person compared with another.

When do hearts break?

Our heart breaks as a baby in small steps when there is no one who is sensitive and responsive to me and my needs.

Our heart breaks in kindergarten when we have experiences of rejection or exclusion.

Our heart breaks as a schoolchild when our curiosity and our desire to learn find no space.

Our heart breaks in puberty if there is not sufficient stability from the outside, and our inner chaos takes over.

Our heart breaks as adolescents when our love and opening ourselves to another are not met with love.

Our heart breaks when we cannot develop our competencies fully and do not experience ourselves as valuable.

Our heart breaks when what we think is secure collapses.

Our heart breaks when friends turn away, because they cannot bear our being who we are.

We all have experiences that we do not wish on anyone else.

Yes, we all have injuries; many that unconsciously drive us, and with which we come into contact during the course of our lives, moments when scars are reopened. Sometimes they drive us into flight from ourselves and sometimes into committed action, sometimes into leadership roles and sometimes into victim rolls.

Far too often they drive us unconsciously beyond our own boundaries and beyond the boundaries of others. Then our broken heart becomes destructive.

And how does our broken heart become art? Something beautiful, something valuable, something inspiring?

For many of us, this desire, which we seldom formulate, is the motive, the reason to deal with the painful, difficult aspects of life. In our words, we want our efforts to be productive, we want to strengthen people, balance deficits and heal injuries. And in working with children, teenagers and parents, we want to prevent bad things.

But the confrontation with one’s own wounds and with the existential pain of the those one encounters is the greatest challenge of working with people.

For encounter and interventions to become something artistic, something human, something strong, beautiful and life-affirming, we must care for our own broken heart with our own wounds. Without the transformation of our own wounds into something beautiful, personal and well-integrated, our efforts can do harm.

The expert answer, or a well-meant solution, or a simplistic or methodical approach between us and others is too often the case. Instead of structure and help, these become a wall and barrier. The longing for human encounter and real contact, is then lived out through

worry

care

indulgence

addiction

harmony

desire to give up responsibility to others

And much more …

These modes of encounter all have their right to exist, but sometimes prevent the art of true encounter, true connection in interaction.

Moments of real connection, showing ourselves vulnerable, facing our pain and sharing reality are always moments of hidden beauty, in which we learn this human art of coexistence and from which unhindered, joyful and relaxed places of further development arise.

Thank you for reading and sharing our work.

We would be delighted if you would encourage our work and support our work through your participation. On request we will be pleased to come to you.

In the name of the entire IGFB team I wish you a beautiful, valuable and „artistic“ new year 2017

Robin Menges

The original text was published Jan. 19th, 2017 and translated by Ed Murray

Drei kleine Punkte

Drei kleine Punkte – FÜR BERLIN

Diesen Text habe ich gestern spontan übersetzt, übersetzt um meine Tränen für Berlin in konstruktive Bahnen zu lenken. Ich kenne Berlin, ich habe Freunde dort. Ich habe schon schöne und schwierige Zeiten in Berlin verbracht. Und der Schreck, die Brutalität fahren auch in meine Knochen und doch ist das nur eine Seite des Lebens. Mich berührt die Kraft und die Stärke solcher Menschen, wie Noah Reich, die sich mit ihrer Verletzlichkeit persönlich zeigen.

Der Blog erschien am 29. Juni, den Tag des Anschlages in Instanbul. Trump war noch nicht gewählt, der Terroranschlag in Cannes und vieles Weitere noch nicht passiert.

Drei kleine Punkte … (ein Text von Noah Reich, erschienen in Englisch auf Medium)

Heute habe ich um drei kleine Punkte gebetet
Heute habe ich um drei kleine Punkte gebettelt.
Heute hing meine Zukunft von drei kleinen Punkte ab.

Heute in der Mittagspause, bei der Geburtstagsfeier eines Kollegen, erhielt ich eine Nachricht von meinem Bruder.
„Es passiert gerade etwas am Flughafen. Ich liebe Euch.“

Zuerst dachte ich gar nichts weiter, aber dann schnappte ich schnell mein Telefon.
„Was meinst Du?“ antwortete ich.
Ich wartete auf das Erscheinen der drei kleinen Punkte, die anzeigen, dass er zurückschreibt.

Nichts.
Mein Herz begann zu rasen. Ich ging auf Twitter und suchte „Istanbul“. Im ersten Tweet, der erschien, las ich „zwei Explosionen im Flughafen Istanbul gemeldet.“

Ich wurde taub.

72 Stunden vorher, hatte ich meinen Bruder und seine Freundin Kristine zum Burbank Flughafen gebracht, um eine Europareise zu machen, auf die sie sich seit Monaten gefreut hatten. Kristine hat gerade ihren Abschluss an der UCLA gemacht und mein Bruder eine Fernsehsendung zu Ende gebracht, an der er gearbeitet hat. Der Zeitpunkt konnte für diese Reise nicht perfekter sein, abgesehen davon, dass sie am Abend des Game of Thrones Finale ohne Wi-FI zu einem zweiwöchigen Abenteuer aufbrachen.

„Wir sind in der Türkei gelandet. Langer Flug, habe das meiste verschlafen. Wir werden heute Nacht in der Lounge bleiben und morgen die Stadt erkunden“ – Bruder

„Du solltest Dich ausruhen und GoT schauen, solange du Wi-Fi hast“ – Ich

Ein paar Minuten später, schickte mein Bruder meiner Mutter und mir ein Foto eines Mannes vor seinem Laptop, das ein Schiff zeigte.
„Dieser Kerl schaut die Episode von letzter Woche“ – Bruder

„Naja, vielleicht macht er dann gleich mit der Episode von gestern weiter“ – Mutter

Ein paar Stunden waren vergangen. Mein Telefon meldete sich. „habe Mutters Ratschlag befolgt und die nächste Episode mit ihm geschaut. Er ist ein russischer Kerl, der kein Sterbenswörtchen English spricht, also hatte er die russischen Untertitel an. Wir haben keine Sprache geteilt, aber nach jeder verrückten Entwicklung ein gemeinsames Luftschnappen und tsk tsk tsk artige Reakionen. Lol“ – Bruder

An meinem 8. Geburtstag, wurden mein Bruder und ich mit dem Messer bedroht und meine Air Jordan Schuhe geraubt. Mein Bruder verfolgte den Dieb und wurde mitten auf einer großen Kreuzung von einem Auto angefahren, das das rote Licht überfahren hatte. Das Gefühl meinen Bruder mitten in der Kreuzung liegen zu sehen, verfolgt mich mein ganzes Leben. An diesem Tag wurde ich eines Paares Schuhe und meiner Unschuld beraubt. Drei Jahre später war die Columbine Schießerei. Ich war 10 Jahre alt.

Mein Bruder und ich gingen gemeinsam unseren Schulweg und er brachte mich zum Eingang der Grundschule, bevor er sich weiter auf den Weg zur Mittelschule machte, die mehrere Straßenblöcke entfernt war. Jeden Tag fürchtete ich, dass sich eine ähnliche Szene in seiner Schule abspielen könnte. Jeden Tag um 15:30 überkam mich eine Welle der Erleichterung, als er kam, mich abzuholen.

Diese Angst, die vor Jahrzehnten als Pflänzchen in mir gesetzt wurde, wurde immer wieder begossen von 9/11 bis 7/7. Im Laufe meines Lebens, musste ich der leisen Stimme in mir, die in meinen Eingeweiden aufkam Raum geben, ob es sicher war ins Kino zu gehen, in ein Konzert oder ein Restaurant. In den letzten Monaten, waren Schießereien an Orten, die ich zu meinen Heimatorten zähle. In meiner Alma Mater, UCLA, und in einem Schwulenclub. Wenn es um das Gefühl geht, sich nicht sicher zu fühlen, habe ich genug Treibstoff, um mich für mein restliches Leben am Laufen zu halten und das war schon vor heute.

Als ich auf eine Antwort meines Bruders wartete, ging ich panisch den Ventura Boulevard auf und ab. Ich dachte an die panischen Textnachrichten, die Mina Justice von ihrem Sohn Eddie in der Nacht der Pulse Club Schießerei bekommen hatte. Ich dachte an die Angst, die mein Bruder und Kristine am Flughaben haben mussten, wenn sie Schüsse hörten und die Fenster der Lounge auf Grund der Explosionen zerbrachen. Ich dachte an den Anruf, den ich machen würde, um meine Mutter über alles zu informieren. Ich dachte an den 8-jährigen Buben, der vor Jahren mitten auf einer Kreuzung stand, und sich vorstellen musste, wie das Leben ohne seinen besten Freund aussehen würde.

Und dann waren sie da.

Die drei kleinen Punkte.

„Wir hörten Schüsse und eine Explosion. Wir sind in einem Zimmer von jemanden im Hotel versteckt. Ich halte dich so gut ich kann am Laufenden“ – Bruder

Mein Bruder und Kristine flüchteten aus der Flughafen Lounge, wo sie sich versteckt hatten, in dem sie von Schutz zu Schutz über zerborstenes Glas krabbelten. Sie machen sich auf den Weg zum angeschlossenen Hotel, wo sie an eine Tür nach der anderen anklopften bis jemand aufmachte. Es war ein Paar aus Spanien, die auf Hochzeitsreise waren. Nach mehreren Stunden, wurden sie aus dem Flughafen wieder über zerborstenes Glas, getrocknetes Blut und dem Geräusch heulender Sirenen evakuiert.

Ich bin dankbar, dass mein Bruder und Kristine in Sicherheit sind, aber mein Herz zerbricht, wenn ich an hunderte Familien denke, die heute nicht so glücklich waren. Es erschreckt mich, mir vorstellen zu müssen, wie es heute in diesem Terminal gewesen sein musste und es schaudert mich zu wissen, wie viel Glück Adam und Kristine gehabt hatten.

Ich bin krank und müde davon, Angst zu haben. Ich will nicht in einer Welt leben, wo ich meine Sicherheit an jeder Ecke und die Absichten derer um mich herum in Frage stellen muss. Ich will nicht in einer Welt des Brexit und Donald Trump leben, wo die treibende Kraft des Lebens, Angst ist.

Ich will in einer Welt leben, wo ein beliebiger russischer Typ, der kein Wort Englisch spricht, auf die Seite rutscht und Dich neben sich sitzen lässt, um das Finale des Game of Thrones zu schauen. Ich will in einer Welt leben, wo ein Paar aus Spanien auf Hochzeitsreise Ihre Tür inmitten eines Terroranschlags öffnet und Dir Schutz gewährt.

Trotz allem, was heute passiert ist, ist das die Welt, in der wir leben, an die ich glaube.

STOPP! sagen

Manchmal will ich nur STOPP! schreien!

STOPP! Wenn ich Bilder von Babys und Kindern, von Männer und Frauen in Aleppo sehe.

STOPP! Wenn ich mit Frauen und Männern arbeite, die ihr Möglichstes für Menschen in Krisen, für Menschen mit Beeinträchtigung, für Kinder, usw. geben, aber nicht ausreichend Ressourcen bereitgestellt werden, damit sie die psychischen Anforderungen gut bewältigen können.

STOPP! Wenn ich lese, dass die Mindestsicherung zur Diskussion steht und nicht die Vermögenssteuer.

STOPP! Wenn Menschen abgeschoben werden, als ob sie Ware wären, die man nicht bestellt hat.

STOPP! Wenn ich heuer im Urlaub an der Deutsch-polnischen Grenze eine Armut erlebe, die ich in Deutschland! nicht für möglich gehalten hätte und gleichzeitig nur ein paar hundert Kilometer weiter im selben Land Reichtum und Überfluss herrscht.

STOPP! Wenn ich genau dort auch nach 70 Jahren das Trauma des Krieges deutlich spüre. An zerbombten Brücken vorbeiradle, die seit 70 Jahren so stehen und die Unfähigkeit verdeutlichen über eine Grenze zu schauen und Verbindendes möglich zu machen.

STOPP! Wenn ich sehe, wie Eltern Beschämung und Leistungsdruck als Erziehungsmittel legitimieren, weil sie das zukünftige Wohl ihres Kindes vermeintlich im Auge haben und nicht das momentane.

STOPP! Genauso wie ich es manchmal LAUT und DEUTLICH in der Begleitung von streitenden Paaren sage.

Genau dort, wo jeder um seine Würde kämpft und die erhoffte Anerkennung in der Abwertung des anderen sucht. Genau dort wo tiefe Verletzungen sichtbar werden. Genau dort wo die Möglichkeiten klar zu denken eingeschränkt sind, weil schmerzhafte Gefühle der Verletzung, der Scham, des Nichtgesehenwerdens, der Abwertung, … überhand nehmen.
Wenn Anerkennung und Würde fehlen, wird die Luft zum Atmen dünn. Wenn der Sauerstoff fehlt, dann ringen wir nur noch um Luft und alles andere tritt in den Hintergrund. Das ist mit Anerkennung und Respekt nicht anders. Da ist dann jedes Mittel recht. Auch wenn mit zwei Schritt Abstand deutlich sichtbar ist, dass alle Versuche ins Gegenteil umschlagen, dass man mit dem eigenen Verhalten die eigene Würde in den Dreck zieht. So wie in allen Beispielen oben – die Würde des Einzelnen, die Würde eines Staates, die Würde von Verantwortungsträgern auf dem Spiel steht.
Damit die Würde gewahrt bleibt, braucht es innere Weite und Anerkennung. An-erkennung der verletzlichen Seiten des Lebens. An-erkennung der fehlerhaften Seiten des Menschseins. An-erkennen, dass wir nicht perfekt sind und auch nicht mit Anstrengung alles leisten können. An-erkennen, dass ich in letzter Instanz als Mensch nicht besser, aber auch nicht schlechter bin als jeder andere.

Anerkennung des Anderen: die Individualität und Mangelhaftigkeit zu sehen, genauso wie den zarten Kern dahinter.

Würde entsteht da, wo ich persönliche und individuelle Bedürfnisse bei mir und beim Anderen ernst nehme.

Würde entsteht da, wo einer anfängt und für sein Verhalten, das an die Grenzen des anderen stößt Verantwortung übernimmt.

Würde entsteht da, wo gesunde Aggression, die als Reaktion auf Grenzüberschreitungen entsteht, zum Schutz und zur Sicherheit eingesetzt werden können. Da wo wir STOPP! sagen.

Würde entsteht da, wo wir das gemeinsame Wohl aller nicht als Gegenspieler unserer eigenen Interessen, sondern als Bereicherung unserer eigenen Bedürfnisse wahrnehmen.

Würde entsteht da, wo wir anerkennen, dass wir letztlich alle als Menschen ähnliche Bedürfnisse, nach Sicherheit, Geborgenheit, Distanz, Individualität und das Gesehen werden in unserer Unterschiedlichkeit haben.

Würde entsteht da, wo wir anerkennen, dass wir uns letztlich nicht kennen und immer noch neugierig auf den anderen, auf sein momentanes Verstehen und Empfinden bleiben.

Danke für Euch alle, die ihr immer wieder im Großen und Kleinen STOPP! sagt und einen würdevollen Umgang einfordert. Der Gradmesser ist letztlich, ob ich mein Verhalten mit mir selbst und meiner Würde in Einklang bringen kann.

Ich schreibe in den nächsten Tagen an diesen Gedanken weiter und möchte ausführen, was sie für das Arbeiten bedeuten können.

Ich freue mich von Euch zu hören oder lesen.

Ein Fußballtrauma?!?

Vorne hinweg: Ich gönne der deutschen Nationalmannschaft ihren ersten Sieg über Italien[1].

Aber ganz platt: sie haben damit kein Trauma überwunden oder ähnliches.

Was ist eigentlich ein Trauma? Was ist eine Kränkung? Eine Enttäuschung? Und warum macht es Sinn diese Begriffe zu verstehen und zu unterscheiden.

Psychische Fachbegriffe werden zunehmend stärker von Presse und Netzwerken übernommen. Das hat zwar den Effekt, dass alles rund um das Psychische nicht mehr so stark tabuisiert wird, aber das ist ein zweischneidiges Schwert. Es findet nämlich eine brisante Vermischung von Begriffen und Halbwissen statt.

Was ist eigentlich ein Trauma? Was ist eine Kränkung? Eine Enttäuschung? Und warum macht es nicht nur für Fachleute Sinn diese Begriffe zu verstehen und zu unterscheiden.

Deshalb heute Mal ein bisschen psychologisches Hintergrundwissen aus Anlass der EM Berichterstattung, die neben existentiellen Themen unsere Presse derzeit vereinnahmt.

Die Fakten sind: Deutschland hat noch nie in einem Großereignis gegen Italien gewonnen – das ist reine Statistik. Aber wie wir alle wissen kommen hier Emotionen, Hoffnungen und vieles mehr in Bewegung. Durch die Tatsache 0 Siege / 4 Niederlagen wurde das neuerliche Zusammentreffen besonders aufgeladen. „Die Bilanz ist erschütternd: Acht Spiele, vier Unentschieden, vier Niederlagen.[2] Was macht das erschütternd?

Mit jeder Niederlage sind Gefühle der Frustration, der Kränkung und der Scham verbunden. Das sind alles Gefühle, über die keiner leicht spricht. Das sind sehr „persönliche“ Gefühle, die offenbart keiner gerne. Aber jeder kennt sie – in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen. In seltenen Fällen ist eine Niederlage sogar gefühlt auch ein Sieg, was wir diese Tage auch erlebt haben: „Und die Isländer fahren im Bewusstsein heim, ohnehin irgendwie Sieger der 15. EM gewesen zu sein. Und deren wohl größten Sympathieträger.[3] Der Spiegel schreibt „Trauma überwunden, grenzenloser Jubel[4] aber auch dass Löw von einem Trauma nichts wissen will …

Was wäre denn ein Trauma?

Und was ist der Unterschied zwischen einem Trauma und einer Kränkung, zwischen einem Trauma und einer anderen psychischen Verletzung. Und warum wäre auch eine weitere Niederlage für Deutschland kein Trauma gewesen?

Ein Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis. Man steht zwischen einer bedrohlichen Situation und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten[5]. Es ist der menschliche Umgang mit der Katastrophe.

Ein traumatisches Erlebnis ist eine Situation, die mich (Leib und/oder Seele) massiv und existentiell bedroht und in der meine Handlungsmöglichkeiten nicht ausreichen, um mich zu schützen oder mich zu wehren. Das führt zu sehr starken Gefühlen der Ohnmacht und des schutzlos Preisgegebenseins und führt kurz- und langfristig zu einer Erschütterung des Selbst und des Weltverständnisses, das Grundvertrauen in die Welt schwindet.

Es bedarf mindestens dieser drei Elemente, um von einem Trauma zu sprechen

  1. Existentiell bedrohlich!
  2. Ohnmacht und keine ausreichenden Handlungsmöglichkeiten
  3. Massive Erschütterung des Selbst und des Weltverständnisses

Humorvoll gesprochen können wir im Fall der deutschen Nationalmannschaft vielleicht davon sprechen, dass ihr Selbstbild durch die wiederholten Niederlagen erschüttert wurde. Aber keine der Niederlagen war existentiell bedrohlich und das Team war weder schutz- noch hilflos dem Ganzen ausgeliefert. 11 sportliche, starke Männer haben sich als Erwachsene freiwillig einem Duell gestellt, und die Realität hat ihnen (in diesem Fall mehrfach) die Grenzen ihres Könnens aufgezeigt. Ganz einfach – das ist enttäuschend und je nachdem wie es verlaufen ist und wie danach darüber gesprochen wird möglicherweise auch kränkend.

Traumatisierende Erlebnisse finden in Kriegen statt (betrifft alle vor Krieg flüchtenden Menschen), bei Katastrophen, einem Unglück. In solchen Situationen ist man einem oder mehreren traumatische Erlebnissen ausgesetzt. Nicht jeder ist aber in der Folge von einer Posttraumatischen Belastungsstörung betroffen. Viele Menschen entwickeln durch ihre persönlichen und sozialen Ressourcen einen wertvollen und sinnvollen Umgang mit dem erlebten Trauma[6].

Eine weitere Form der Traumatisierung sind Kindheitstraumata – aber nicht alle Kränkungen und Verletzungen, die ein Kind erleidet sind traumatisierend. Traumatisierend wird es genauso wie oben beschrieben, wenn es (aus Kindessicht!!) bedrohlich erlebt wird, die eigenen Handlungsmöglichkeiten nicht ausreichen und das Kind sich falsch fühlt. Kinder lernen in diesen Situationen emotional „einzufrieren“, still zu werden. Und entwickeln ein starkes Bedürfnis, sich auszukennen und zu orientieren und Dinge soweit möglich zu kontrollieren. Das ist ein sinnvoller Versuch die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Diese Kinder sind immer auf der Hut, weil sie die erlebte Katastrophe, die oft nicht bewusst zugänglich ist, nicht benennen können und nie wissen können, ob nicht wieder etwas Schlimmes unerwartet passiert.

Das ist in aller Kürze ein kleiner Abriss über psychische Traumata. Und das ist gerade im Umgang mit geflüchteten Kindern und Erwachsenen, oder anderen Menschen, die Heftiges erlebt haben ein hilfreiches Hintergrundwissen.

Andererseits ist Trauma aber ein „großes“ und vor allem abstraktes Wort, das uns die Möglichkeit gibt über etwas Schlimmes und Heftiges zu sprechen, ohne direkt eine Gefühlsanbindung zu haben. Das Wort Trauma löst bei den meisten Menschen nicht die Angst und die Bedrohung aus, von der sie eigentlich handelt. Das macht es auch für die Presse leicht es als reißerische Schlagzeile zu nutzen.

ABER:
Viel häufiger als Traumatisierungen finden Enttäuschungen und Kränkungen, Demütigungen und Beschämungen statt. Zum Beispiel bei Niederlagen im Sport, im Schulalltag, im Job und in der Partnerschaft.

Über diese Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen ist , wie oben erwähnt, für die meisten Menschen schwierig. Man kann kaum über Enttäuschungen sprechen, ohne in Berührung mit den dazugehörigen Gefühlen zu kommen. Und auch der Begriff der Kränkung löst unmittelbar starke Empfindungen aus, auch wenn er konkret schwer zu fassen ist. Wenn man diese Begriffe ausspricht, spürt man die menschliche Verletzlichkeit; das Persönliche und Individuelle, das jeder Kränkung innewohnt.

Ich mache in Therapiesitzungen und Beratungen die Erfahrung, dass schon allein, dass ich anspreche, dass etwas enttäuschend oder kränkend gewesen sein könnte, zu starken Abwehrmechanismen führen kann. Menschen rechtfertigen, erklären und werten sich und ihre Empfindungen selber ab. ZB. die Enttäuschung anerkennen, dass ich von meinen Eltern nicht das bekommen habe, was ich vielleicht gebraucht hätte, holt das Gefühl heim. Es wird mein Gefühl. Oder wenn ich damit in Berührung komme, dass mich vielleicht eine lächerliche Kleinigkeit, die mein Partner vergessen oder gesagt hat, wirklich gekränkt hat (auch wenn es nicht logisch sein mag). Dann zeige ich mich verletzlich, dann bin ich in Berührung mit meinen Gefühlen und Empfindungen, mit mir als ganzem Menschen und mit aller Unsicherheit, die dieses Leben mit sich bringt. Dieses Gefühl des Ganzseins ist gleichzeitig auch eine wesentliche Komponente psychischer Stabilität und Gesundheit.

Enttäuschung, Kränkung, Scham und Verletzlichkeit – ein wichtiger Teil des Lebens

Es ist für unsere persönlichen Beziehungen, für unsere Partner und unsere Kinder wichtig, dass wir über Enttäuschungen, Kränkungen und Beschämendes sprechen. Dass wir unser Vokabular erweitern und unsere inneren Empfindungen benennen. Und alle drei angesprochenen Erfahrungen und Gefühlskomplexe sind Dinge, die zwischen Menschen passieren. Es gibt immer einen, der kränkt (manchmal absichtlich, zb. Mobbing – manchmal unabsichtlich und oft sogar unwissentlich), etwas das kränkt (ein Satz, ein Blick, etwas Vorenthaltenes, …) und jemand, der durch etwas gekränkt wird. Es landet auf persönlichen wunden Punkten. Deshalb kann ein Satz, den einen kränken und den anderen nicht.

Die Niederlagen waren sicher enttäuschend, frustrierend, vielleicht auch kränkend und beschämend für die deutsche Nationalmeisterschaft. Aber das weiß leider keiner von uns so genau, weil über diesen Aspekt nicht gesprochen wird. Das Spiel wird analysiert, die Fehler ausgebreitet. Experten und Nichtexperten wissen im Nachhinein alles besser, aber die Gefühle, die Frustration, die Kränkungen, Demütigungen die auch dadurch entstehen, haben keinen Raum. Damit entsteht eine Gesellschaft, die jedem von uns stillschweigend vermittelt, diese Gefühle solltest du gar nicht haben.

Es macht aber auch Sinn, dass das in unserer sehr wertenden und leistungsorientierten Gesellschaft, diese Themen nicht angesprochen werden. Wenn man solche Gefühle zeigt, zeigt man seine verletzliche Seite, macht sich angreifbar und daher brauchen diese einen bewertungsfreien Raum. Einen Raum, wo man gemeinsam sagen kann: „shit happens“ und wenn es um Kränkung geht: „sorry“.

An dieser Stelle noch zwei Bücher sehr empfehlenswerte, gut zu lesende Bücher:

Ganz neu „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller. Als Gerichtspsychiater kommt er zwar von der extremen Seite, aber alles, was er beschreibt, lässt sich weniger extrem ausgeprägt in unserem Alltag und in unseren Beziehungen wiederfinden.

Und „Scham – die tabuisierte Emotion“ von Stephan Marks. Einführung in die Aspekte der Scham und die Auswirkungen auf uns als Einzelne, auf unsere Gesellschaft und auf Erziehung.


[1] www.derstandard.at/2000040294227/Deutschland-ueberwindet-Italien-Trauma-nach-verruecktem-Elferschiessen

[2] www.11freunde.de/artikel/deutschland-vs-italien-die-schlimmsten-niederlagen

[3] www.derstandard.at/2000040337679/La-Gloire-fuer-Frankreich-Chapeau-fuer-Island

[4] www.spiegel.de/sport/fussball/em-2016-deutschland-nach-italien-sieg-um-demut-bemueht-a-1101046.html

[5] Fischer/Riedesser 2009 Lehrbuch der Psychotraumatologie

[6] Schiffer, Wie Gesundheit entsteht 2011

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